Fazit

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie "Mitten in Nürnberg?", weiterführende Forschungsfragen und Handlungsempfehlungen für die Praxis

In der Studie "Mitten in Nürnberg" untersuchte das ISKA im Zeitraum September 2017 bist Ende 2018 die Alltagsgestaltung und sozialen Netzwerke von Flüchtlingen in Nürnberg. Im Rahmen der Studie führten wir zwei Gruppendiskussionen mit insgesamt 11 Expertinnen und Experten sowie 11 qualitative und 150 standardisierte Interviews mit Geflüchteten. Wir stellten Fragen zur Alltagsgestaltung, zur Nutzung Sozialer Medien, zu verwandtschaftlichen und freundschaflichen Kontakten in Nürnberg. Wir fragten die Flüchtlinge, mit wem sie ihre Freizeit verbringen, ob sie Kontakt zu Deutschen haben, wie es zu diesem Kontakt kam und wie sie ihn bewerten.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

  • Geflüchtete in Nürnberg haben insgesamt wenig Kontakt mit Deutschen. Wenn Kontakte bestehen, finden sie meist im professionellen oder ehrenamtlichen Hilfesetting statt. Freizeitkontakte mit Deutschen pflegt nur jeder vierte Geflüchtete. Meist besteht auch dieser private Kontakt zu Personen, die sich ehrenamtlich engagieren.

  • Gleichzeitig wünschen sich 91% der Geflüchteten mehr Kontakte zu Deutschen. Etwa zwei Drittel haben bereits versucht, Deutsche kennen zu lernen, häufig aber ohne Erfolg. Drei von vier Flüchtlingen meinen, dass es ihnen (teilweise) schwer fällt, Deutsche kennen zu lernen. Wichtigster Grund dafür ist die Sprachbarriere. 28% meinten aber auch, dass das verschlossene und teils ablehende Verhalten der Deutschen die Kontaktaufnahme erschwert.

  • Es wird deutlich, dass Ehrenamtliche weit über konkrete Hilfsangebote hinaus einen wichtigen Beitrag zur Integration leisten. Ehrenamtliche stellen häufig den einzigen privaten Kontakt in die deutsche Gesellschaft dar. Mutmaßlich prägen sie damit auch das Bild der Geflüchteten über Deutsche besonders stark. Sie tragen dazu bei, dass die Zugereisten eine Möglichkeit haben, typisch deutsche Verhaltensweisen und Normen kennen zu lernen und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Sie stellen die emotionale Brücke in die deutsche Gesellschaft her und leisten daher besondere Integrationsarbeit.

  • Die Aufenthaltsdauer hat einen überraschend geringen Einfluss auf die Anzahl an Kontakten zu Deutschen. Ein mehrjähriger Aufenthalt in Nürnberg bedeutet noch lange nicht, dass sich intensivere Kontakte zu deutschen Nürnbergerinnen und Nürnbergern entwickeln.

  • Besonders bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Kontakte zu Deutschen vorwiegend mit Frauen stattfinden. Hier spiegelt sich das weiblich geprägte Hilfesystem wieder.

  • Angebote speziell für Flüchtlinge bieten zwar besonders gute Möglichkeiten, mit Deutschen in Kontakt zu kommen. Allerdings spielen sie im Alltag nur bei einem kleinen Teil der Geflüchteten eine Rolle. Das Gleiche gilt für Arbeit und eigenes Ehrenamt.

  • Für Familien mit Kindern im entsprechenden Alter sind Kindertageseinrichtungen ein besonders guter Ort zur Kontaktaufnahme mit Deutschen. Sie werden auch von fast allen Geflüchteten mit Kita-Kindern besucht, gerade auch von Vätern.

  • Wenn auch weniger mit Deutschen, konnten die Geflüchteten in Nürnberg insgesamt gesehen doch viele neue Kontakte aufbauen. 85% berichten davon, dass sie mindestens einen Freund oder eine Freundin in Nürnberg haben. 94% nennen Personen, mit denen sie ihre Freizeit verbringen.
  • Ein Teil der Geflüchteten lebt relativ isoliert. 28% haben keine familiären Angehörige in Nürnberg, 15% keine Freunde vor Ort, 18% können niemanden nennen, der ihnen hilft und 27% kennen niemanden in Nürnberg, um persönliche Probleme besprechen zu können.

  • Zur Internetkommunikation nutzen Flüchtlinge vorwiegend WhatsApp und Facebook. Facebook und YouTube werden von vielen Nutzern auch verwendet, um sich über Deutschland zu informieren. Spezielle, von der Zielgruppe organisierte Internetseiten wie die Facebookgruppe "das syrische Haus", haben hier eine große Reichweite. Die geringe Nutzerquote der "Integreat-App" zeigt wiederum, dass es eine große Herausforderung darstellen kann, Internetangebote zu implementieren.

Welche Ergebnisse haben uns überrascht?

  • Der Wunsch, mehr Deutsche kennen zu lernen und Freundschaften zu finden, wurde deutlich von den Geflüchteten geäußert. Gerade in den qualitativen Interviews und außerhalb der standardisierten Antworten wurde deutlich, dass viele Geflüchtete wirklich nicht wissen, wie sie einen persönlichen Kontakt zu deutschen Nürnbergern und Nürnbergerinnen herstellen können. Einigen Äußerungen über gescheiterte Kontaktversuche entnahmen wir echte Verzweiflung.

  • Die Studie bestätigt, dass ehrenamtliche Flüchtlingshelfer neben formaler Orientierungshilfe auch für den sozialen Integrationsprozess eine große Bedeutung haben.

  • Bemerkenswert ist für uns auch das Ergebnis, dass deutsche Kontaktpersonen überwiegend weiblich sind, obwohl die befragten Geflüchteten zum größeren Teil Männer waren.

  • Die wichtige Rolle des kirchlichen Engagements war uns zwar bekannt, doch zeigt die Studie nochmal dessen außergewöhnliche Bedeutung. Besonders interessant ist der Befund, dass Geflüchtete, die Angebote im kirchlichen Kontext besuchen, auch signifikant mehr Personen kennen, die ihnen helfen.

Wo sollte weiterführende Forschung anknüpfen?

  • Die Studie erarbeitete Instrumente, um die Netzwerke von Geflüchteten zu erforschen. Durch den regionalen Bezug und die Auswahl der Geflüchteten ist die Aussagekraft begrenzt. Es wäre aufschlussreich, die quantitative Studie auch in anderen Regionen durchzuführen.

  • Dabei wäre vor allem auch ein Stadt-Land-Vergleich interessant. Die Durchführung einer entsprechenden Erhebung in mehreren Regionen und Städten könnte wichtige Erkenntnisse liefern, welche Bedingungen Kontakte fördern.

  • Außerdem bleiben auch die sozialen Netzwerke von nicht arabisch sprechenden Geflüchteten zu erforschen.

  • In Nürnberg gibt es Projekte, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Kontakte zwischen Deutschen und Geflüchteten zu befördern. Es wäre interessant genauer zu ermitteln, welche Erfahrungen dort gemacht werden und wie solche Angebote gelingen und ausgeweitet werden können.

Welche Folgen ergeben sich für die Praxis der Flüchtlingshilfe?

  • Es existieren einige Angebote in Nürnberg, die den Kontakt zwischen Geflüchteten und Deutschen befördern. Sie leisten einen sehr wichtigen Beitrag zur Integration. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass die bisherigen Anstrengungen nicht ausreichen, um zu verhindern, dass viele Geflüchtete in einer Art Parallelgesellschaft leben, ohne persönlichen Bezug zu Deutschen.

  • Gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz hängen aber auch davon ab, ob man einander kennt. Ängste, Vorurteile und Unsicherheiten können durch persönliche Kontakte auf beiden Seiten abgebaut werden. Gerade in den qualitativen Interviews wurde deutlich, dass Geflüchtete auch Kontakte zu Deutschen suchen, um deutsche Umgangsformen zu verstehen und zu erfahren, wie sie sich in verschiedenen Situationen richtig Verhalten können. Wie sollen sie gesellschaftliche Gepflogenheiten kennenlernen, wenn kaum private Interaktion mit Einheimischen besteht?

  • Kontakte zu Deutschen können helfen, Benachteiligungen aufgrund von Sprachdefiziten, fehlendem Systemwissen oder niedrigerer Bildung zu verringern. Chancengleichheit kann so befördert und Frustration und Rückzug der Geflüchteten vorgebeugt werden. Soziale Kontakte befördern insgesamt die Integration.

  • Es muss noch intensiver überlegt werden, mit welchen Methoden und an welchen Orten diese Kontakte hergestellt werden können.

  • Wie lassen sich Geflüchtete mehr in ehrenamtliche Projekte einbinden, in denen sie sich gemeinsam mit und für Deutsche engagieren?

  • Kindertageseinrichtungen werden von Deutschen und geflüchteten Eltern gleichermaßen regelmäßig besucht. Sie können als Ort der Begegnung ausgebaut und ausgestattet werden - für die Kinder ohnehin, aber gerade auch für die Eltern.

  • Wie lässt sich der Zugang zu Arbeitsstellen erleichtern und ausbauen?

  • Die Studie zeigt insbesondere den Bedarf, Möglichkeiten für Begegnung, Kontakt und Austausch auf privater Ebene zu schaffen - außerhalb von Hilfe-Settings, in denen die Geflüchteten automatisch die Rolle der "Bedürftigen" einnehmen und ihre Situation als Flüchtling bzw. daraus entstehende Defizite im Vordergrund stehen. Geeignet scheinen dafür Kontexte, in denen Deutsche und Geflüchtete gemeinsame Interessen oder Aktivitäten teilen (Elternaktionen in Kitas, gemeinsamer Sport, gemeinsame ehrenamtliche Tätigkeiten etc.).

  • Vor allem sind (junge) deutsche Männer gefragt, den Kontakt zu geflüchteten Männern zu suchen. Die kulturelle Umstellung erfordert bei den zugezogenen Männern oft auch eine große persönliche Auseinandersetzung. Sie gelingt mit Sicherheit leichter, wenn deutsche Freunde und Bekannte auch männliche Rollenbilder in Deutschland repräsentieren und Vertrauenspersonen darstellen.

  • Ein Teil der Geflüchteten lebt relativ isoliert in Nürnberg. Gerade hier ist es Aufgabe der Stadtgesellschaft, Brücken zu bauen.