Verständnis des Helfens

Immer wieder sind wir in unseren Gesprächen darauf gestoßen, dass Muslimas zwar einerseits seltener in organisierten ehrenamtlichen Settings der Mehrheitsgesellschaft zu finden sind, gleichzeitig aber als besonders hilfsbereit beschrieben werden. Wir vermuten, dass ein religiös und vor allem kulturell geprägtes Verständnis des Helfens die Ursache für diesen scheinbaren Widerspruch ist.

Spontanes und informelles Helfen als Teil der Kultur

Muslimische Frauen wurden in den Gesprächen immer wieder als besonders hilfsbereit beschrieben. Auch weil Hilfe einen so großen Stellenwert in der Religion und Sozialisation hat, wird Hilfe selbstverständlich eingefordert, aber auch geleistet. Besonders deutlich wird das in den islamischen Gemeinden:

"Wenn ich Hilfe brauche, wenn ich sage wir haben Tag der offenen Moschee, (...) bitte Hilfe, Kuchen backen, Tische umstellen, Raum vorbereiten, kommen alle und helfen mit." (E3)

"Die Frauen die machen wirklich überall was und es ist erstaunlich. (...) Selbst Frauen, die sonst so viel arbeiten." (G1)

Spontane und unkomplizierte Hilfe ist somit fest verankert im Alltag. Wenn es dagegen um längerfristiges und umfangreicheres Engagement geht, tun sich islamische Gemeinden und Organisationen teilweise schwer damit, Ehrenamtliche zu finden:

"Für langfristiges Engagement oder langfristiges Einbringen sind Leute jetzt nicht so begeistert und deswegen ist es immer schwierig." (E3)

Damit beschreibt diese Expertin eine Herausforderung, mit der Freiwilligenorganisationen allgemein zu kämpfen haben. Gerade jüngere Freiwillige sind auch aufgrund ihrer Lebenssituation (Familie, umfangreiche berufliche Verpflichtungen) schwieriger für ein langfristiges Ehrenamt zu gewinnen (Simonson et al. 2021, S. 29).

Gegenseitige Hilfe und Verantwortung anders verankert

Die islamischen Gemeinden (wie auch andere religiöse Gemeinschaften), bieten ein weniger stark formalisiertes, informelleres Unterstützungsystem, in dem der oder die Einzelne kurzfristig, spontan und oft unaufgefordert hilft. In muslimisch geprägten Kulturen ist gegenseitige Hilfe und Unterstützung von Schwächeren ein selbstverständlicher Teil des Zusammenlebens und wird als moralische Verpflichtung innerhalb der Großfamilien und der Gemeinden empfunden. 

In Deutschland ist die Bedeutung großfamiliärer und religiöser Netzwerke deutlich geringer und damit auch die nicht institutionalisierte gegenseitige Hilfe und Verantwortung. Das in etablierten Freiwilligenorganisationen geleistete Bürgerschaftliche Engagement kompensiert oft "künstlich" das, was in einer weniger singularisierten Gesellschaft innerhalb der religiösen Gemeinschaften, aber auch in Familien oder Nachbarschaften geleistet wird.

Ehrenamt als (deutsches) Konstrukt

Es wurde in den Gesprächen immer wieder deutlich, dass diese in Deutschland stärker formalisierte und organisierte Form des Helfens weniger der Kultur der Muslimas entspricht:

"Ich hab jetzt auch nie das Gefühl gehabt, ich gehe jetzt dort hin und mache ehrenamtliche Arbeit. Also für mich ist das ein Bestandtteil des Lebens, das gehört dazu. Ich würde es unter dem Namen eher 'ich helfe jetzt jemandem' oder 'ich trage was bei zur Gesellschaft' betiteln, anstatt jetzt das Gefühl zu haben 'oh ich geh jetzt mal hin und mach dann zwei Stunden ehrenamtliche Arbeit und gehe dann wieder in meinen Alltag zurück'." (G1)

Mehrmals wurde erwähnt, dass es entsprechendes Bürgerschaftliches Engagement in den Herkunftsländern nicht gibt:

„In unseren Ländern ist ehrenamtliche Arbeit nicht so etabliert wie hier in Deutschland. Man findet in Deutschland viel mehr Leute, die sich einfach freiwillig engagieren, (...) obwohl (…) aus islamischer Perspektive ist es sehr wichtig, sich ehrenamtlich zu engagieren, (…) sich in der Nachbarschaft zu engagieren, einem kranken Menschen Hilfe anzubieten. (…)  Das ist auch so religiös begründetes, so nachbarschaftliches, verwandtschaftliches Engagement. Das gibt es immer noch. Aber sich für etwas jetzt zu engagieren, was institutionell ist, das ist nicht so ausgeprägt.“ (E1)

"Früher hatte ich keine Ahnung. Also in meinem Herkunftsland gibt es solches ehrenamtliches Engagement nicht, (...) also wir haben so ein Konzept nicht." (E4)

Das Bürgerschaftliche Engagement als Form der organisierten Hilfe muss also neu zugewanderten Muslimas zunächst nähergebracht werden. Um diese Zielgruppe zu erreichen wäre es zudem hilfreich, niedrigschwellige, kurzfristige, weniger formalisierte Engagementmöglichkeiten anzubieten. Diese Aspekte werden in der Handlungsempfehlung Zugang erleichtern nochmal aufgegriffen.