Bildungsinteresse statt Gerechtigkeit

Vortrag von Bruno Preisendörfer, gehalten am 13. Juni 2013 im Institut für soziale und kulturelle Arbeit, Nürnberg. Im Internet auch publiziert auf www.fackelkopf.de.

Da ich weder professioneller Erzieher noch Erziehungswissenschaftler bin, sondern nur ein armer freilaufender Schriftsteller, der im autobiographischen Selbstversuch ein Buch über Bildung geschrieben hat (Das Bildungsprivileg, 2008), kann ich keine pädagogischen Konzepte oder didaktischen Vorschläge bieten – nur ein Prinzip: Das „Prinzip Coco Chanel“. Bei Coco Chanel denken die meisten Männer wahrscheinlich vage an Parfum, die meisten Frauen indessen an das „Kleine Schwarze“, an dieses Kleidchen, das je nach Figur und Statur Traum oder Alptraum der Damen ist.

Aber was hat Coco Chanel mit Bildung zu tun?

Viel, sehr viel sogar: Insofern nämlich, als das 1883 geborene Kleine-Leute-Mädchen sich im Laufe seines langen Lebens, Coco starb 1971, sich also im Laufe dieses Lebens mit Ausdauer, Disziplin und Herrsucht zu einer Ikone machte, zu einem Bild, zu einem Weibs-Bild, sozusagen. Dies ist gesagt mit kniezitterndem Respekt vor dieser Dame, die ihr Leben lang auf Linie blieb, auf der eigenen Linie, die sie den anderen Frauen vorschrieb. Ihre Haltung zum Leben ließe sich so zusammenfassen:

  • Man soll immer aufmerksam, vorsichtig und fleißig sein!
  • Man soll niemals nach Mitternacht zu Bett gehen!
  • Man soll nur lieben, wenn man geliebt wird!
  • Man soll sich gerade halten, den Kopf hoch tragen, einsam und erfolgreich sein.

Oben ist oben und unten ist unten: „Ich finde es schön“, sagte sie, „wenn die Mode sich auch unten auf der Straße durchsetzt, aber ich lasse nicht zu, dass sie von dort kommt.“

Man muss nur ‚Mode’ durch ‚Bildung’ ersetzen: „Ich finde es schön, wenn die Bildung sich auch unten auf der Straße durchsetzt, aber ich lasse nicht zu, dass sie von dort kommt.“ Das ist das „Prinzip Coco Chanel“.

Die Eigensinnigkeit der Bildung

Zunächst eine Beschreibung alter, aber vorbildlicher Nürnberger Bildungsverhältnisse: „Jeder konnte das Wort verlangen und eine Meinung gegen andere geltend zu machen suchen, der Rektor selbst trat nur hin und wieder belehrend dazwischen, um die Erörterung zu leiten. Auf solche Weise wurden den Schülern vielseitige Kenntnisse mitgetheilt, der Trieb zum Eindringen in das eigentlich Wissenschaftliche angeregt, und insbesondere der Scharfsinn gebildet.“

Diese Beschreibung des Unterrichts am Nürnberger Melanchthon-Gymnasium stammt aus den Erinnerungen von Johann Georg Wirth, einem der Mitorganisatoren des Hambacher Festes von 1832. Wirth besuchte das Gymnasium von 1814-1816. Bei dem Rektor, den er erwähnt, handelt es sich übrigens um den folgenreichsten Schwaben, den die Philosophie je hervorgebracht hat: um Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

Wirths Erinnerung an seine Nürnberger Gymnasialzeit mündet in den Seufzer: „Ach wie ganz anders wirkt freie Erziehung, als ein sklavisches Zucht-Regiment! Es lebte unter uns Zufriedenheit, ein erhebender Stolz, ein freudiger Trieb zum Anstreben an Bildung und edle Sitte, wodurch die wohlthätigsten Erfolge erzielt wurden.“ Ein freudiger Trieb zum Anstreben an Bildung. Das klingt tautologisch. Man kann es aber auch so verstehen: Der Trieb zum Streben weist auf Eigensinn und Eigenwert der Bildung hin, auf ihren Selbstzweck.

Dieser Selbstzweck überschreitet den „Aufstieg durch Bildung“, der aus einer sozialdemokratischen Losung inzwischen zu einer von allen geteilten Lösung geworden ist: eine illusionäre freilich. Privilegien und Benachteiligungen werden nicht im Bildungssystem gemacht. Wenn sie auch dort verstärkt und zementiert werden, so entstehen sie doch nicht im Bildungs-, sondern im Gesellschaftssystem.

Wenn es um Bildung, nicht bloß um Ausbildung geht – wobei gegen Ausbildung gar nichts zu sagen ist; wenn es also um Bildung geht, wäre die richtige Parole nicht „Aufstieg durch Bildung“, sondern „Aufstieg zur Bildung“. Solange Bildung nur als Mittel zum Zweck gesehen wird, hängt die Wertschätzung, die ihr entgegenbracht wird, von eben diesen äußerlich an sie herangetragenen Zwecken ab.

Nichts gegen Ausbildung, nichts gegen soziale Mobilität, nichts gegen das ‚Aufstiegsstreben’, nichts gegen die Chance, durch höhere Bildung zu höherem Einkommen und höherem Status zu gelangen. Dennoch beinhaltet das, was man ‚Entfaltungsgerechtigkeit’ nennen könnte, etwas anderes. Diese Entfaltungsgerechtigkeit bezieht sich auf die Chance, Bildung als Selbstzweck entdecken und für sich entwickeln zu können. Ihr Sinn besteht in der Entfaltung dessen, was dem einzelnen Menschen in seinem umgrenzten Lebensraum und in seiner begrenzten Lebenszeit möglich ist. Und zwar nicht nach den Kriterien des Funktionierens, obgleich dieses Funktionieren dem Menschen seit der Vertreibung aus dem Paradies aufgebürdet ist, sondern nach Maßgabe dessen, was für den einzelnen übers Funktionieren hinaus das Leben lebenswert und sinnvoll macht. Insofern übrigens hat Bildung immer auch mit Herzensbildung zu tun, wobei ich ausdrücklich bitte, dabei nicht an den „kleinen Prinz“ zu denken.

Die Fünfsinnigkeit der Pädagogik

„Man sieht nur mit dem Herzen gut“, heißt es in Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry. Aber sehen tun die Augen – und denken tut der Kopf! Was immer kleine Prinzen in großen Kinderbüchern behaupten mögen. Wenn ich mich recht ent-sinne, hat der Mensch fünf Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten. Ich bin nicht sicher, ob diese Reihenfolge auch eine Rangfolge ist. Sicher bin ich jedoch, dass in unserer Bildergesellschaft der Sehsinn alle anderen dominiert. Um so wichtiger ist es, Kinder rechtzeitig erfahren zu lassen, dass sie fünfsinnige Wesen sind. Man könnte das hochtrabend auch die ‚ästhetische Dimension’ der Pädagogik nennen.

Das altgriechische Wort Aisthesis, von dem die Ästhetik herkommt, hat mit Wahrnehmung zu tun. Und Wahrnehmung findet immer mit dem ganzen Körper statt, nicht bloß im Kopf – allerdings auch nicht ohne ihn. Besonders wichtig ist die ästhetische Fähigkeit, Altgewohntes neu wahrzunehmen. Für Kinder ist alles neu. Und das Erwachsenwerden besteht hauptsächlich darin, immer mehr alt aussehen zu lassen. Menschen, die selber anfangen, alt auszusehen (und wer bliebe davon verschont?) sollten dieses Altern der Welt bekämpfen, und zwar durch neue Ideen, nicht durch Regression ins Infantile.

Ich will nicht soweit gehen, die These aufzustellen, das Hauptziel der Vorschule bestünde darin, die Kinder aufs Alter vorzubereiten. Dabei läuft die seit Jahrhunderten kolportierte Schulweisheit, der Mensch solle nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen, eigentlich genau darauf hinaus. Dennoch sollte es weniger darum gehen, die Vorschulkinder auf die Schule und dann die Schüler aufs Leben vorzubereiten – vielleicht sollte es mehr darum gehen, die Kinder auf sich selbst vorzubereiten.

Eine Pädagogik, die an Bildung um ihrer selbst Willen orientiert ist, hat neben der ästhetischen noch eine existenzielle und eine historische Dimension. Mit der existenziellen Dimension meine ich die Fähigkeit zur Selbstreflexion, eingeschlossen die Erkenntnis der persönlichen Endlichkeit.

Die historische Dimension meint dementsprechend die Fähigkeit zur Einsicht in die gesellschaftliche Endlichkeit. Ich halte alle drei Dimensionen für die schulische, akademische und auch berufliche Sozialisation für außerordentlich wichtig. Im didaktischen Alltag kommen alle drei, jedenfalls soweit ich das einschätzen kann, zu kurz. Das sei an der besonders vernachlässigten historischen Dimension kurz erläutert. Damit ist nicht etwa historisches Wissen gemeint, also Wissen im Modus „Es war einmal“, so wichtig dies für die Erinnerungskultur auch sein mag. Mit der historischen Dimension ist vielmehr eine Fähigkeit angesprochen, die sich im Modus „Es wird einmal gewesen sein“ vollzieht.

Bodenständiger ausgedrückt: Es handelt sich um die Fähigkeit, über die eigene Gesellschaft aus der Perspektive der Zukunft nachzudenken. Was werden die Menschen in Zukunft über unsere Gegenwart denken, wenn diese Gegenwart Vergangenheit geworden ist? Werden unsere Maßstäbe Bestand haben? Wird unsere Tagesmoral der Überprüfung durch künftige ethische Prinzipien standhalten? Wird das, was heute Recht ist, morgen noch richtig sein? Werden die politischen Regeln und sozialen Tatsachen von heute in Zukunft Ver- oder Bewunderung auslösen?

Die historische Dimension der Bildung läuft auf die Freiheit hinaus, in Zukunft die Gegenwart anders zu bewerten, und deshalb die Gegenwart in der Zukunft auch anders zu wollen. Die historische Dimension der Bildung hat also weniger mit dem zu tun, was einmal war, als damit, wie es einmal werden soll – insofern hat sie etwas Utopisches, obwohl ich dieses Unwort nicht mag.

In der Vorschulerziehung hat die historische Dimension der Bildung – nichts zu suchen. Dafür ist sie zu politisch. Die Erwachsenen sollen die gesellschaftlichen Probleme, denen sie selbst kaum gewachsen sind, nicht den Kindern ans Bein binden, die erst einmal laufen lernen müssen – im übertragenen, intellektuellen Sinn. Kinder gehören nicht an die Macht, wie ein beliebter Schlagersänger gegrönt hat, sondern in Obhut. Sie selbst sind die Welt, auf die sie vorbereitet werden sollen.

Die Sinnlosigkeit des Lebens

Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist pathologisch – sagt Sigmund Freud! Die Formulierung ist vielleicht etwas übertrieben, aber Freud will darauf hinaus, dass mit einem Leben, das hauptsächlich damit verbracht wird, nach dessen Sinn zu suchen, etwas nicht stimmt. Den Sinn des Lebens sucht man nicht, sondern man macht ihn. Und man macht das Leben sinnvoll, indem man es lebt. Aber das ist tautologisch! Na um so besser. Das ganze Dasein ist tautologisch. Man könnte auch sagen: es ist ‚intrinsisch’. In der Psychologie wird als ‚intrinsische Motivation’ bezeichnet, wenn etwas um seiner selbst Willen getan wird. Die meisten Menschen können sich im Alltag intrinsische Motivation nicht leisten. Man geht nicht arbeiten, um arbeiten zu gehen, sondern um Geld zu verdienen. Man geht zum Beispiel arbeiten, um sich den Urlaub zu verdienen, mit dem man sich vom Arbeiten erholt. Doch ist zu hoffen, dass in der Pädagogik auch der Eigenwert, der Eigensinn der Arbeit zu seinem Recht kommt, ebenso wie der Eigenwert und Eigensinn der Bildung.

Bildungsgerechtigkeit oder Bildungsinteresse

„Wenn alle Eltern so lautstark und gewichtig darauf bestehen würden, dass ihre Kinder das Abitur machen, wie es Akademikereltern auch dann tun, wenn ihre Sprösslinge nur sehr mäßige Schulleistungen aufzuweisen haben, dann wäre der vorzeitige Abgang [von den Gymnasien] bei allen Gruppen so gering wie bei Kindern aus den höheren Schichten.“

Diese Bemerkung stammt von dem Liberalen Ralf Dahrendorf, der in den 60er Jahren „Bildung als Bürgerrecht“ gefordert hatte. Aus dem Bürgerrecht ist nichts geworden, und aus der Bildungsgerechtigkeit auch nichts. Deshalb bin ich der Meinung, dass Gerechtigkeit nicht interessant, aber dafür das Interesse gerecht ist. Und so, wie die akademischen Familien mit gutem Recht ihre Interessen verteidigen, so sollten auch die Bildungsfernen mit dem besseren Recht der Zukurzgekommenen und Nachholenden ihre Interessen verteidigen, und zwar ausschließlich ihre Interessen – nicht die irgendeiner an den Haaren herbeigezogenen Allgemeinheit. Warum wird eigentlich ausgerechnet den Benachteiligten die allgemeine Weltverbesserung zugemutet? Warum sollen ausgerechnet die mit dem größten Nachholbedarf Rücksicht auf die mit den großen Vorsprüngen nehmen?

Im übrigen dient die Berufung aufs Allgemeine sowieso häufig nur der Verschleierung spezieller Interessen. Die Leute verteidigen ihre Privilegien mit der Gerechtigkeit für andere. Die Krux ist nur, dass es den Bildungsfernen an Impulsen fehlt, um Ansprüche auf Bildung geltend zu machen. Und wenn es nicht an den Impulsen fehlt, dann fehlt es – oft – an Kompetenz. Das kann man den Leuten nicht vorwerfen – und man sollte es ihnen deshalb im Bildungsalltag auch nicht nachtragen. Wer als Tochter oder Sohn kein Gymnasium (oder eine Universität) besucht hat, tut sich schwerer, als Mutter oder Vater die Bildungsinteressen seiner Kinder an einem Gymnasium (oder einer Universität) zu vertretern als Leute, für die das Gymnasium (oder die Universität) eine familiengeschichtliche Selbstverständlichkeit ist.

Eine Grundschule dagegen haben alle besucht. Und viele auch einen Kindergarten. Die Kindergärten, Kitas, Vorschulen und Grundschulden sind die Orte, an denen die Bildungsfernen ihre Interessen wirklich vertreten können. Was um so wichtiger zu betonen ist, als hier die künftigen Bildungschancen vorbereitet und die Wegweiser in die Lebensläufe aufgestellt werden.

Ich bin gegen den Zwang zur Partizipation, und wäre es selbst dann noch, wenn eine erzwungene Teilnahme brauchbare Ergebnisse zeitigen würde. Aber Motivation, auch so etwas wie ‚Anschubmotivierung’ kann es nicht genug geben – und wenn sie durch ‚Anschubfinanzierung’ unterstützt wird: umso besser. Das hat etwas mit ausgleichender Solidarität zu tun, nichts mit Mitleid. Mitleid ist politisch ohnehin schädlich, denn es handelt sich dabei – strukturell betrachtet – um Solidaritätsverweigerung auf dem Weg der Einzelfallhilfe. Politisch, bildungspolitisch kommt es aber nicht auf Samaritertum, sondern auf Strukturveränderungen an.

Übrigens ist auch das Selbstmitleid der Benachteiligten schädlich. Statt in didaktischer Herablassung die armen Bildungsfernen zu bedauern und passives Gewimmer zu unterstützen, sollte lieber ein wenig der Sozialneid geschürt werden. Von Bildungssozialneid kann es gar nicht genug geben! Würden die Bildungsfernen mit aggressiv forderndem Sozialneid ihre Rechte geltend machen, müssten die konkurrierenden Interessen ehrlicher gegeneinander abgewogen und besser miteinander ausbalanciert werden. Es geht also nicht darum, die differenzierte Klientel- und Interessenpolitik in eine indifferente Pseudopolitik für alle umzuwandeln, die nur in moralischen Appellen versanden würde. Vielmehr kommt es darauf an, in selbstbewusster Einseitigkeit die Interessen der Bildungsfernen zu formulieren und eine Klientelpolitik für sie zu entwickeln.

Noch einmal: Es handelt sich bei den Benachteiligungen nicht um Benachteiligungen im Einzelfall, auch nicht um sogenannte ‚Mißstände’. Es handelt sich um strukturelle, um systemische Benachteiligungen, denen systemische Bevorzugungen entsprechen. ‚Systemisch’ meint dabei, dass es sich eben nicht um Fehlfunktionen des Systems handelt, sondern um Funkionen, die zu seiner inneren Verfassung gehören. Deshalb kann, bei aller Hilfe in Einzelfällen, auf der politischen Ebene die systemische Bildungsdiskriminierung auch nur systemisch behoben werden. Es handelt sich nicht nur um ein didaktisches, pädagogisches, schulisches und vorschulisches Problem, sondern um ein gesellschaftliches, also ein soziales und politisches.

Die unter wohlmeinenden Gebildeten verbreitete Irrlehre, gesellschaftliche Probleme ließen sich pädagogisch lösen, ist einer der Gründe dafür, dass sich an der strukturellen Benachteiligung von Kindern bildungsferner Familien seit Jahrzehnten nichts Grundsätzliches geändert hat. Je nach ökonomischer und bildungspolitischer Konjunktur schaffen es ein paar mehr oder ein paar weniger von ihnen bis zur Universität, aber insgesamt ist die Chancenlage der bildungsfernen Schichten gleich schlecht geblieben.

Der in diesem Jahr wegen seines 250sten Geburtstages gefeierte fränkische Schriftsteller Jean Paul, Sohn eines ärmlichen, aber gebildeten ‚Schulmannes’, wie man damals sagte, Jean Paul also hat in seinem Roman Hesperus geschrieben: „die höhere Bildung der Einzelnen wird mit der Verwilderung der Menge erkauft“. So schlimm wie zu seiner Zeit ist es heute nicht mehr. Aber so viel besser auch wieder nicht: die viel herumgereichte ‚Chancengleichheit’ ist nur eine Illusion. Diese Illusion erleichtert es den Bevorzugten, ihre Privilegien vor sich und anderen zu rechtfertigen, während sie den Benachteiligten hilft, sich über ihre Lage hinwegzutrösten. Es ist leichter, sich damit abzufinden, man habe ein Chance nicht genutzt als damit, überhaupt keine gehabt zu haben.

Die Frontlinie, oder weniger martialisch formuliert: die Konkurrenzlinie der Verteilungskämpfe verläuft nicht, wie oft behauptet wird, zwischen ‚oben’ und ‚unten’, sondern durch die Mitte. Genauer gesagt: innerhalb der Mittelschicht, und zwar zwischen den akademischen Kernmilieus der Mittelschicht auf der einen und der unteren Mittelschicht der saturierten Arbeiter, Angestellten und kleinen Beamten auf der anderen Seite. Die Benachteiligung der unteren Mittelschicht, der Unterschicht und bestimmter Migrantenschichten ist keine kulturelle oder rassistische, sondern eine klassistische. Die soziale Herkunft, nicht der kulturelle Hintergrund hat den stärksten Einfluss auf die Bildungschancen. Der Überbetonung des Kulturellen, wie sie in Deutschland – sehr im Unterschied etwa zu Frankreich – üblich ist, entspricht eine Vernachlässigung, mitunter regelrechte Verleugnung des Sozialen.

Interessenpolitik für Bildungsferne wird derzeit wieder schwieriger. Das hat mit tatsächlichen und mit eingebildeten Problemen der akademisch ausgebildeten Mittelschichten zu tun. Die alte Verknüpfung zwischen höherer Bildung, höherem Status und höherem Einkommen hat sich gelockert. Sie hat sich nicht aufgelöst, wie vergleichende Statistiken über Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit in den verschiedenen Schichten beweisen, aber sie ist doch brüchiger geworden. Und Menschen teilen eben nicht gern – oder sie teilen nur, wenn bei diesem ‚Teilen’ der eigene Anteil nicht kleiner wird. So ist es auch bei der Bildung. Deshalb wird die Tatsache, dass auch Bildung eine Ressource ist, und zwar eine begrenzte, gern geleugnet. Wenn diese Tatsache dann nicht länger übersehen werden kann, und wenn sich die Konkurrenz innerhalb der eigenen Schicht verschärft, wird man von den Leuten kaum erwarten können, sich in heiliger Selbstaufopferung auch noch für zusätzliche Konkurrenten aus anderen Schichten einzusetzen. In Situationen wie diesen ziehen die verschiedenen Interessengruppen zwar an einem Strang – aber in verschiedene Richtung.

Auch für das Bildungssystem trifft das zu, was Anthropologen und Soziologen auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Systeme zu beschreiben gewohnt sind: Diejenigen, die am meisten von ihm profitieren, wissen in der Regel auch am besten, wie es funktioniert und haben deshalb die höchste Kompetenz zur Kritik. Nur wer weiß, wie ein Laden läuft, kann etwas an ihm ändern. Man könnte dies das Überwinderparadox nennen. Dieses Überwinderparadox wirkt übrigens nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene, sondern auch auf der familiären. Bildungsmigration ist sehr häufig mit familiären Entfremdungsprozessen verbunden.

Die institutionelle Sozialisation als Fortsetzung oder Unterbrechung der familiären Erziehung

Dieses Thema ist besonders delikat. Und es gibt tatsächlich Situationen, wo das Aussprechen von Wahrheiten eine Unhöflichkeit, mitunter eine Aggression ist. Bildungsfernen Leuten zu sagen, sie würden die strukturelle Benachteiligung durch Selbstbenachteiligung noch zementieren, ist sicher nicht immer hilfreich – wahr bleibt es dennoch. Hier muss nicht um den heißen Brei geredet werden. Sentimentalität und Sozialromantik sind kontraproduktiv, auch die Veredelung der Opfer ist kontraproduktiv. Ähnliches gilt für die Helfer und Erzieher. Erzieher müssen durchaus keine besseren Menschen sein, es ist nicht einzusehen, warum ihnen eine Selbstaufopferung abverlangt wird, die andere Berufsgruppen für unzumutbar halten. Das zu betonen ist nicht nur eine Frage des Selbstwertes und Selbstschutzes, es hat auch die Konsequenz, die sehr harte Konsequenz, dass man verloren geben können muss. Vor die Alternative gestellt, sich fruchtlos abzumühen bis zu Resignation und Erschöpfung oder die Kräfte zu bündeln, bin ich aus politischen Gründen kaltherzig für die Bündelung der Kräfte. Aber im Alltag, das wissen Sie sicher sehr viel besser als ich, ist alles ja viel verwickelter als ich es hier der Deutlichkeit wegen zuspitze.

Menschen, die nicht aus bildungsfernen Milieus stammen, können sich die Bedrohung, die von Bildung ausgeht, nur schwer vorstellen. Bedrohung? Kinder aus bildungsfernen Familien – das können durchaus saturierte, auch finanziell gut gestellte Familien sein wie etwa die der gutbezahlten Facharbeiter – Kinder aus solchen Familien werden früher oder später mit Entfremdungserfahrungen konfrontiert, wenn sie das Herkunftsmilieu verlassen. Für Kinder aus Bildungsfamilien gibt es eine Brücke zwischen Herkunft und Zukunft, für Kinder aus bildungsfernen Familien gibt es zwischen Herkunft und Zukunft eine Kluft. Der Bildungsweg führt, spätestens mit Abitur und Studium, aus der Herkunftsfamilie heraus. Kinder aus Bildungsfamilien entfalten sich geistig, ästhetisch und intellektuell in und mit der Familie, Kinder aus bildungsfernen Familien können sich geistig, ästhetisch und intellektuell nur gegen die Familie entfalten.

In Bildungsfamilien stehen alle Mitglieder auf der gleichen Seite der Bildungsbarriere, in bildungsfernen Familien stehen Eltern und der Bildung nahe gekommene Kinder einander diesseits und jenseits der Barriere gegenüber. Wer von unten kommt und hoch hinaus will, hatte es schon immer schwerer als diejenigen, die eine familiär bereits erreichte Position nur noch persönlich verteidigen müssen und einfach dort bleiben wollen, wo auch die Eltern schon sind: in der gepflegten akademischen Mitte oder in der Funktionselite oder in der Oberschicht der Vermögenden. Der Aufstieg indessen muss erkämpft werden. Der Bildungsgewinn wird fast immer mit einem Bindungsverlust bezahlt – mit dem Verlust der Bindung ans untere Herkunftsmilieu. Das ist keine abstrakte Angelegenheit, sondern eine sehr persönliche. Die Entfremdung, die da auszuhalten ist, findet schließlich zwischen Eltern und Kindern und zwischen Geschwistern statt.

Das hinterlässt Spuren im Selbstgefühl und in der Identität. Es hinterlässt auch Spuren bei der Familie, aus der heraus sich diese Kinder nicht bloß weiter-, sondern fortentwickeln, fort-entwickeln eben nicht nur im Sinne von Sich-entfalten, sondern auch im Sinne von Sich-entfernen, vom Sich-entfernen aus der Herkunftsfamilie und dem Herkunftsmilieu. Für Kinder bildungsferner Familien ist Bildung eine Migrationserfahrung, zwar keine interkulturelle, aber eine innerkulturelle Migrationserfahrung.

Im einen wie im anderen Fall werden Aufsteiger bewundert, wenn sie zurückkommen und Geschenke verteilen. Wissen kann man aber nicht verteilen wie Geschenke oder Geld, auch sozialen Status kann man nicht verteilen, wie Geschenke oder Geld. Sozialer Status färbt zwar ab, aber von den Eltern auf die Kinder, nicht von den Kindern auf die Eltern. Für bildungsferne Eltern bringt die Bildung ihrer Kinder Verlustängste mit sich und auch tatsächliche Verlusterfahrungen. Ich glaube, dass darin einer der Gründe zu suchen ist, warum viele bildungsferne Eltern für ihre Kinder Realschul- oder Fachschulabschlüsse gut finden, während ihnen das Studieren eher suspekt ist. Die Kinder sollen aufsteigen, sich aber nicht zu weit von der Familie entfernen. Das ist bei den mittleren Abschlüssen am ehesten miteinander zu vereinbaren.

Die seelischen Sorgen, die sich bildungsferne Eltern machen, wenn ihre Kinder der Bildung zu nahe kommen, sind also nicht nur subjektiv berechtigt, sondern auch objektiv begründet. Die inneren Widerstände gegen Bildungsambitionen, die die eigene Herkunft überschreiten, resultieren weniger aus mentaler und intellektueller Vernagelung, als aus der Sorge, im besten Fall der Ratlosigkeit, was wohl werden wird, wenn die Kinder die eigenen sogenannten kleinen Verhältnisse verlassen und einem dann als Angehörige der sogenannten besseren Kreise gegenübertreten.

Auf der Seite der aufgestiegenen Kinder kann das zu etwas führen, was ich ‚Aufsteigerdiskretion’ nenne. Wenn man es ‚geschafft’ hat, egal wohin, erzählt man im Kollegenkreis ja nicht dauernd herum, dass Mama Putzfrau war und Papa Bauarbeiter. Auf der Seite der zurückgebliebenen Eltern wiederum wird der Stolz auf den Aufstieg der Kinder vergiftet durch die Angst, die Kinder könnten sich ihrer Eltern schämen. Man kann dieses ‚setting’ nicht genug betonen, weil Leute – jedenfalls ist das meine Erfahrung – , die in Bildungsfamilien aufgewachsen sind, von dieser Problematik keine Vorstellung haben.

Die Aufsteigerdiskretion und die Angst der Eltern vor der Scham ihrer Kinder entstehen zum Glück erst in den letzten Etappen eines Bildungsweges und dürften in Kitas und Grundschulen noch keine große Rolle spielen. Ich vermute, dass sich in dieser Phase die Eltern noch keine Gedanken darüber machen, was auf sie zukommt, wenn die Kinder bildungsmäßig fortkommen. Es ist deshalb besonders wichtig, schon in dieser Phase den Keim zur Bildung zu legen, obwohl ich die Metapher vom ‚Keim’ nicht mag, denn Kinder sind keine Pflanzen, die man in Gärten zieht.

Was bedeutet das alles für die institutionelle Pädagogik? Sollen Kitas, Vorschulen und Grundschulen die familiäre Erziehung um funktionelle Fertigkeiten erweiternd fortsetzen? Oder sollen sie die familiäre Erziehung ergänzen, vor allem dort, wo diese Erziehung defizitär ist? Aber wer befindet darüber, was defizitär ist, wer stellt die Kriterien auf? Und unter welchen Bedinungen soll die institutionelle Erziehung die Erziehung in der Familie nicht nur ergänzen, sondern unterbrechen, weil diese Erziehung nicht nur defizitär, sondern ungeeignet und schädlich für die Kinder ist?

In Fällen von Verwahrlosung sind feinsinnige Diskussionen unangebracht. Hier hat der Staat zu handeln, notfalls auch gegen den Willen der Eltern. Grundsätzlich geht es jedoch um Behutsamkeit. Staatliche Stellen und institutionelle Autoritäten sollen nicht zu weit in die Familien vordringen. Die Schule als moralische Anstalt hat ihr pädagogisches Personal nicht mit obrigkeitlichen Befugnissen auszustatten. Gleichwohl ist sanfte Intervention unvermeidlich, sobald die außerfamiliäre Sozialisation beginnt. Schon die Tatsache, dass Erziehung außerhalb der Familie stattfindet, wirkt in die Familie hinein, ob man das will oder nicht. Im besten Fall werden nicht nur die Kinder erzogen, sondern auch die Eltern; und im allerbesten Fall erziehen die Eltern in einem fruchtbaren Rückkoppelungsprozess ihrerseits wieder die Lehrer. Das ist mehr als ‚feedback’, das wäre ein pädagogisches Relais, in dem alle alle erziehen und jeder von jedem lernt. Diese Idylle wird im pädagogischen Alltag selten anzutreffen sein. Im Alltag ist ohne die wilde Mischung aus Prinzipientreue, zielorientierter Nachgiebigkeit und Durchwurstelei wahrscheinlich nichts zu machen.

(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors)